Wir halten uns für unsterblich. Ein Interview mit Daniel Marschall.
Laura Alt (Verlag Periplaneta) hat mit dem Autor Daniel Marschall über Verschwörungstheorien, künstliche Intelligenz, Ostdeutschland und Unsterblichkeit gesprochen.
„Tonatiuh oder Apokalypse in Pasewalk“ handelt von einem nicht stattfindenden Weltuntergang. Was fasziniert Sie an diesem Thema?
D.M.: Die
grundsätzliche Möglichkeit einer Vernichtung intelligenten Lebens auf der Erde
ist real. Man kann ernsthaft die Varianten durchspielen: Atomkrieg, Pandemie,
Klimakatastrophe, Mega-Vulkanausbrüche oder eine ganze Reihe Gefahren aus dem
Weltraum. Ganz sicher wird die Erde durch die Verwandlung der Sonne in einen
Roten Riesen ausgelöscht. In meinem Roman droht der Weltuntergang allerdings aus
dem Ende des aztekischen Kalenders. Und das ist natürlich Blödsinn.
Mich interessierte vor allem, wie ein Nicht-Ereignis, ein von Esoterikern
herbeifantasierter „Weltuntergang“ es als Top-Nachricht in Tagesschau,
Mittagsmagazin und andere renommierte Medienformate schaffen konnte. Warum
machen sich die Kamerateams verzweifelt auf die Suche, um irgendjemanden zu
finden, der was Absonderliches in die Kamera spricht? Im Roman beschreibe ich,
wie ein Haufen internationaler Kamerateams und Trupps hochgerüsteter Polizei
durch Pasewalk schweifen und kein Schwein ist da, außer sie selbst. Und wie man
dann immer noch so tut, als berichte man über irgendetwas anderes, außer
darüber, dass es eigentlich nichts zu berichten gibt.
„Apokalypse in Pasewalk“ erzählt vor diesem Hintergrund die Geschichte des
strauchelnden Sportmoderatoren Konrad Fall, dessen allerletzte Karriere-Chance
an einer erfolgreichen Berichterstattung von eben diesem Weltuntergang abhängt.
Konrad Fall kann gar keinen Erfolg haben. Er ist ein moderner Don Quijote.
Es geht also um mehr als „nur“ den Untergang der Erde?
D.M.: „Apokalypse in Pasewalk“ ermöglicht den Blick auf drei Dinge. Erstens auf die moderne Arbeitswelt, in der die meisten nur so tun, als täten sie irgendetwas. Zweitens auf das offenbare Bedürfnis nach „Weltuntergang“, nach „Reinigung“, nach „Erlösung“. Und der Roman bietet Gelegenheit, sich dem Tod zu stellen. Den Menschen erscheint die eigene Sterblichkeit meist als ein unwahrscheinliches Zukunftsszenario. Wir halten uns merkwürdigerweise für unsterblich.
Wieso sind Verschwörungstheorien so verbreitet?
D.M.: In
gewisser Weise sind sämtliche Erzählungen über die Welt zuallererst Theorien,
um unsere Existenz zu begreifen. Sich selbst als Opfer und Spielball geheimer
Mächte zu wähnen, gehört scheinbar zur psychischen Grundausstattung der
Menschen. Opfermythen nehmen den Druck, erklären zu müssen, wie Individuen oder
Gruppen gottverdammt in diese Lage geraten konnten. Der Opferstatus legitimiert
dann ein Vorgehen, sich daraus zu befreien. Und in den nächsten Schlamassel zu
geraten.
Die Rechten beschreiben die Welt als „links-versifft“, die Linken als von
Rechten betriebenes „Unterdrückungs- und Ausbeutungssystem“. Die Religiösen
sehen „allgemeine Gottlosigkeit“, die Atheisten wittern überall „religiöse
Opium“ am Werk, der Ayatollah schimpft auf den „amerikanischen Satan“ und das
amerikanische Außenministerium über „das Machtstreben der Islamischen
Republik“. Merken Sie was? Alle stellen Behauptungen über die Welt auf, die
sich gegenseitig ausschließen. Es gibt aber nur eine Welt. Aber, und das ist
der Punkt, diese Behauptungen werden zur Legitimation des eigenen Handelns und
der eigenen Forderungen. Je größer der eigene Opferstatus, je größer die
Legitimation verschiedener Mittel, auch von Gewalt, sich daraus zu befreien
oder seine eigene Lesart der Welt durchzusetzen. Das vermeintliche Opfer
ermächtigt sich selbst. Hier wird um die Deutungshoheit gekämpft. Sogenannte
Verschwörungstheorien, deren Opfer dann bestimmte Menschengruppen sind, passen
da absolut ins Bild.
Wieso findet der Weltuntergang ausgerechnet (nicht) in Pasewalk statt?
D.M.: Können Sie sich vorstellen, dass in Pasewalk irgendetwas stattfindet? Kleiner Scherz. Aber der Ort wirkt schlicht vergessen. Können Sie sich vorstellen, dass ein Himmelsobjekt mit dem Namen Niribu in Pasewalk einschlägt? Eben. Die haben ihre eigenen Probleme. Landmaschinenklau zum Beispiel.
Ihr Protagonist Konrad Fall ist in Bezug auf den technischen Fortschritt kritisch eingestellt. Wie ist das bei Ihnen? Freuen Sie sich auf selbstfahrende Autos und Lieferdrohnen?
D.M.: Naja, die Erfindung der Postsortiermaschine oder eines Verfahrens zur Kohlevergasung haben mich auch nicht unruhig schlafen lassen. Aber von den dreitausend Verkehrstoten im Jahr könnten vielleicht noch einige leben, wenn nicht zum Beispiel ein besoffener, übermüdeter Bauer mit überhöhter Geschwindigkeit über eine rote Ampel fährt – das wäre vermutlich gegen die Sicherheitsrichtlinie des Algorithmus. Ansonsten setze ich auf die Entwicklung der Produktivkräfte zur Überwindung des Kapitalismus. Und nehme die menschlichen Erfindungen stoisch hin. Ich kann meine italienische Pizza weiter beim Türken an der Ecke kaufen.
Was ist die wichtigste Diskussion, die wir als Gesellschaft hinsichtlich der Weiterentwicklung von künstlicher Intelligenz führen müssen?
D.M.: Wir
müssen nicht über „künstliche Intelligenz“ reden. Genauso wenig wie wir über
Verfahren in der Chemieindustrie reden müssen. Jedenfalls nicht über technische
Details. Wir müssen über Besitz, Eigentum und Macht reden. Wir müssen darüber
reden, wer sich den gesellschaftlich erarbeiteten Mehrwert aneignet, was ihm
die Macht verleiht, das zu tun und wer von einer maschinellen Produktion auf
Basis neuronaler Netzwerke in Zukunft profitieren soll. Ich habe überhaupt
nichts dagegen, dass Maschinen, intelligent oder nicht, für mich das Nötige zum
Leben produzieren. Ich habe ja auch nichts dagegen, dass irgendjemandes Onkel
in einer Fabrik Rauchmelderplatinen lötet. Ich habe etwas dagegen, dass er das
unter Ausbeutungsbedingungen tut. Was „künstliche Intelligenz“ genannt wird,
ist ja erstmal nichts anderes als Software, die in der Lage ist, die
Produktivität enorm zu steigern und dem Kapital eine Verwertungsmöglichkeit
bietet. Wie die gesamte Digitalisierung ja nichts anderes macht, als das
bestehende System der Produktion, Zirkulation und der Kommunikation
rationeller, schneller und billiger zu gestalten. Das ist ihre ökonomische
Funktion. Was wir jetzt mit der Digitalisierung erleben, erleben wir seit der
Erfindung der Dampfmaschine: menschliche Fähigkeiten wandern in die Maschine.
Am Beginn des Kapitalismus betraf das vor allem die Handwerker. Der Handwerker
wird zum Lohnarbeiter. So verwandelt sich jetzt über Generationen angehäuftes
Wissen in Software. Und dieses Wissen wird als „geistiges Eigentum“ patentiert
und erscheint als Eigenschaft des Kapitals.
In diesem Zusammenhang müssen wir das Wettrennen um „künstliche Intelligenz“
betrachten. Sie ist ein mächtiges Produktionsmittel. Die Kernfragen sind
erstens, in wessen Verfügungshand die „künstliche Intelligenz“ liegt, und
zweitens, generell nach privater Aneignung gesellschaftlicher Produktion.
Lesen Sie mehr gedruckte Publikationen oder mehr digital?
D.M.: Aus einem ersten Impuls heraus würde ich gedruckt sagen. Aber wenn ich überlege, wie viel Zeit ich so vor Bildschirmen sitze, lese ich vermutlich die meisten Worte digital. Bücher lese ich überwiegend analog. Manchmal wische ich über die Seiten, um etwas heran zu zoomen. Geht aber nicht.
Ein Thema im Roman ist das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen. Der „Wessi“ Konrad Fall reist mit vielen Vorurteilen nach Mecklenburg-Vorpommern. Kann und sollte man diese „Spaltung“ überwinden?
D.M.: Spaltung setzt eine vorherige Einheit voraus. Preußen, Sachsen und Thüringer haben doch immer ihr eigenes Ding gemacht. Weiß gar nicht, welche Spaltung der Westen überwinden will. Das läuft wohl eher unter: „Wenn ich mal in den Osten muss, soll alles so wie daheim sein, nur dass die Immobilien billiger sind.“ Und für die Ost-Ministerpräsidenten geht’s auch ums Geld. Je „gespaltener“ das Land, umso größer die Töpfe. Also haben sich beide Seiten auf „Spaltung“ geeinigt. Das ist eine Erzählung. Mit der Deutschen Geschichte hat das nichts zu tun. Die Reichsgründung 1871 unter preußischer Vorherrschaft hat den Bayern auch nicht geschmeckt, aber besser man steht an der Seite der Sieger als mit ein paar mageren Kühen auf der Alm im Regen. Ähnlich würde ich das Verhalten der Mehrheit der Ostdeutschen 1990 beschreiben.
Danke für das Interview.