20 AutorInnen – 20 unkonventionelle, mal ernste, meist
schwarzhumorige und mundwinkelhebende Perspektiven auf die Zeit vor,
während und nach Corona.
Die
erste Subkultur-Anthologie mit Kurzgeschichten und Gedichten über
keimschleudernde Kleinkinder, die deutsche Fixierung auf den
Allerwertesten, Anekdoten über Fastfood-Franchises und die eine oder
andere (Alltags-)Apokalypse. Wir schwelgen in Erinnerungen, entdecken
die Unendlichkeit des Augenblicks oder springen jubelnd gemeinsam in den
Abgrund – und dann wundern wir uns, warum alles manchmal so dunkel
erscheint.
Quarantäne
Unsere erste Hawaii-Kreuzfahrt 1999 dauerte 3 Wochen. Diese Hawaii-Kreuzfahrt, unsere vermutlich letzte, schon 184 Tage. Die Kosten übernimmt die Reederei. Meine Frau vermutet, dass sie gegen Einnahmeausfälle, die das Virus verursacht, versichert sind.
Seit einer Woche fahren wir unentwegt nach Norden. Gestern habe ich aus dem Kabinenfenster die ersten Eisberge meines Lebens gesehen. Auf manchen saßen Vögel, hielten Ausschau und besudelten das Eis mit ihrem Kot. Meine Frau vermutet, dass, wenn wer scheißt, er auch gegessen hat. Wir hungern. Die Pflegeroboter, die uns das Fieber messen und das Essen bringen, kommen seit einigen Tagen nicht mehr. Wir ernähren uns von den Resten der vorangegangenen Mahlzeiten. Es ist sehr kalt. Die Klimaanlage ist abgeschaltet. Sie ist ein Übertragungsweg, sagen sie. Meine Frau vermutet, dass sie uns und das Virus im ewigen Eis einschließen wollen. Sie scheint erleichtert. Ich glaube, sie ist froh, dass nach monatelanger Irrfahrt eine Entscheidung getroffen ist und dass wir zusammen sterben. Wir sind alt. Wir haben keine Kinder.
Seit gestern plagt mich die Frage, was aus unserer im Voraus bezahlten Begräbnisstelle mit der kleinen Bank und der Vogeltränke wird. Die Steine sind auch schon in Auftrag gegeben. Ganz schlicht sollen sie sein. Eisberge sind auch schlicht, sagt meine Frau.
Wir sind sehr müde und haben seit Wochen die Kabine nicht verlassen. Aber wir bewohnen eine Außenkabine mit Fenstern, durch die wir hinaussehen und frische Luft eindringt. Wir sehen das Meer und den Himmel. Und den Kot der Vögel auf den Eisbergen, der von Nahrung kündet. An guten Tagen fühlen wir uns immer noch wie auf einer normalen Kreuzfahrt. Gute Tage sind, wenn die Kämpfe zwischen den Decks eingestellt werden. Gute Tage sind, wenn wir gemeinsamen Singen, jeder in seinem Zimmer. Der Gesang dringt durch die Türen und durch die Rohre der Klimaanlage. Meine Frau und ich singen meist unsere Nationalhymne. Gute Tage sind, wenn die nächtlichen Schreie aufhören. Die Schreie der Kranken, die gewaltsam aus ihren Kabinen geholt werden. Jeder weiß, was mit ihnen geschieht. Wenn die Offiziellen in den Ganzkörperanzügen kommen, müssen sie weg sein. Jeder Neuerkrankte verlängert die Quarantäne für das ganze Schiff um 2 Wochen.
Manche unserer Nachbarn halten sich nicht an die Isolierung. Sie haben ein Komitee gegründet und Barrikaden an den Zugängen zu unserem Deck errichtet. Sie lassen niemanden durch. Die, die es versuchen, erschlagen sie mit Tischbeinen. Einer von ihnen hat einen Revolver. Meine Frau vermutet, dass er ein Offizier des Schiffes ist, wie sonst hätte er einen Revolver mit an Bord bringen können? Es gab Sicherheitskontrollen. Sie sagen, die Abriegelung der Decks gehöre auch zu den Quarantänevorschriften. Das ist eine Anweisung des Verteidigungsministeriums. Das Virus ist ein Angriff auf die Nation. Wenige müssen sterben, damit viele leben können, sagen sie. Ich denke das auch. Warum sollen aus menschlicher Solidarität alle Sterben?
Unsere Kabine liegt auf Deck A. Wir können uns das leisten. Unsere Goldinvestments steigen seit Ausbruch der Epidemie unaufhörlich. Das steht in den Zeitungen, die an Bord gebracht werden. Wir verdienen viel Geld mit der Krankheit. Je härter die Maßnahmen der Regierung, zur Eindämmung des Virus, umso größer die Panik an den Investmentbörsen. Das ist gut fürs Gold steht in der Zeitung.
Die Bewohner der inneren Decks reisen in den billigen Kabinen. Sie sind eingeschlossen im Bauch des Schiffes. Sie besitzen wahrscheinlich keine Goldinvestments, aber sie kontrollieren die Küche. Sie lassen die Roboter mit dem Essen nicht mehr nach oben. Meine Frau vermutet, dass Menschen und Vieren sich gleichen. Sie vernichten, was sie ernährt. Warum das so ist, wissen wir nicht. Wir sind alt und entsetzlich müde. (…)